12. - 30. Januar 2018
Lumbini - Gorakhpur - Varanasi - Rewa - Orchha
Geradelte Strecke: 1024 km (Insgesamt 2055 km)
Auf nach Indien!
Nepal verabschiedet sich mit der nun schon seit Tagen herrschenden unangenehm kalten Nebelsuppe über der Landschaft. Auf den letzten Kilometern um die nepalesische Grenzstadt herum wird der Verkehr immer dichter und gibt uns schon einen ersten Vorgeschmack auf das folgende Land.
Schneller als gedacht und fast unbemerkt durchfahren wir die nepalesische Grenze. Na so geht das aber nicht, wir brauchen doch noch einen Ausreisestempel - Ordnung muss sein. Also eben schnell noch mal zurück. In einer kleinen Bude neben der Straße bekommen wir den dann relativ fix. Doch wenn man ihn sich nicht selber holt, interessiert es scheinbar niemand, wer nach Nepal ein oder ausreist.
Die indischen Einreisekontrollen sind ein Witz. Fußgänger, die massenhaft aus ankommenden Bussen ausgeschüttet werden, müssen, schön getrennt nach Männlein und Weiblein, durch Apparate gehen, die wahrscheinlich eine Durchleuchtung darstellen sollen. Doch gleich daneben rollen hunderte Fahrrad- und Mopedfahrer einfach so durch.
Ebenso, wie sie, dürfen auch wir, dank unserer Visa, nach einer kurzen Ausweiskontrolle passieren. Wir wollen doch aber einen Stempel - ach so, den gibt es erst einige hundert Meter später. Wir wären an dem unscheinbaren Büro mittendrin im indischen Stadtgewimmel glatt vorbei gefahren, wenn wir nicht darauf aufmerksam gemacht worden wären. Nur gut, dass wir auffallen und uns von der großen Masse hervorheben. In der kleinen Bude sind mindesten sechs Beamte mit wichtigen Verwaltungsmaßnahmen beschäftigt: man liest Zeitung, spielt mit dem Smartphone oder träumt in den Tag. Das sich auf den Tischen hunderte Pässe stapeln und auf Bearbeitung warteten, scheint keinen zu stören.
Während Petra am Straßenrand die Räder bewacht und sich kalte Füße holt, versucht Mathias drinnen das Interesse auf sich zu lenken. Doch niemand nimmt ihn zunächst zur Kenntnis. Später bekommt er wenigstens zwei Formulare zum Ausfüllen. Nachdem innerhalb der nächsten halben Stunde weitere Touristen hinzugekommen sind und um die Aufmerksamkeit der Beamten buhlen, bequemt man sich wenigstens zu erklären, dass die Netzwerkverbindung unterbrochen ist und deshalb die Arbeit stockt. Aber in zehn Minuten wird es ganz bestimmt wieder laufen. Als nach vielen zehn Minuten sich immer noch nichts tut und der kleine Wartebereich von immer mehr Backpackern verstopft wird, kommt endlich Bewegung in die Sache.
Einer beginnt ganz langsam die Pässe per Hand, also ohne moderne EDV abzuarbeiten. Als dann ein Zweiter noch hinzustößt, geht es dann schon fast rasend schnell, denn schon nach weiteren zehn Minuten sind die ersten drei! Pässe geprüft und können einem dritten Beamten zum Stempeln gereicht werden. Unsere sind zum Glück mit darunter und wir dürfen endlich Indien offiziell betreten. Und da passiert es: Zur Begrüßung lugt sogar ein ganz kleines Momentchen die Sonne etwas durch den Nebel. Aber nur kurz - oder war da nur der Wunsch, der Vater des Gedankens?
Auf der nagelneuen NH 24 Richtung Süden radeln wir ins Land hinein. Die ersten zehn Kilometer ist eine Straßenhälfte von wartenden Lastern Richtung Nepal verstopft. Wie lange werden die wohl brauchen, um ihren Stempel zu bekommen? Ansonsten ist erst einmal kein großer Unterschied zu dem Verkehr in Nepal zu erkennen. Doch die Straße ist super und wir können auf einem komfortablen Seitenstreifen dahinradeln. Bei den ersten Ortsdurchfahrten wird es dann doch etwas chaotischer, als in Nepal. Es fällt auch ein größeres Warenangebot in den Läden auf, aber auch die vielen ärmlichen Ziegelhütten entlang der Straße. Zwischendurch liegen große Felder im Nebel.
Nach 60 km erreichen wir unser erstes indisches Tagesziel. Wir müssen uns eine Unterkunft organisieren, wenn wir nicht in den Büschen zelten wollen, denn davor haben wir hier im Land einen Heidenrespekt. Das Städtchen Anand Nagar ist laut, chaotisch und dreckig und alles andere als einladend. Im Zentrum bekommen wir zum ersten Mal den alltäglichen indischen Verkehrswahnsinn vorgeführt. An jeder Kreuzung ist die Straße total verstopft. Gelöst wird das Problem mit verstärktem Gehupe. So kommt man zwar auch nicht schneller voran, hat aber in der Zwischenzeit was zu tun. Bei dem Stopp and Go haben wir keine Probleme mitzuschwimmen bzw. mitzuwarten, nervend ist es trotzdem. Aber wir haben ein anderes Problem, wir finden kein Hotel.
Zwei mal erfolgt innerhalb von Sekunden ein Massenauflauf wegen uns - Willkommen in Indien - genau so hatten wir uns es vorgestellt. Wenn wir die Leute ansprechen, bekommen wir keine hilfreichen Auskünfte, denn kaum jemand spricht Englisch. Und wir dachten, Englisch ist hier Hauptsprache. Am Stadtrand findet sich dann aber doch noch ein Hotel. Im Haus kommt man sich wie auf einer Baustelle vor, denn vieles ist noch im Rohbau. Mittendrin können wir ein schäbiges Zimmer beziehen. Für den Preis von 800 Rupien (etwa 11 €), sind wir in Nepal weit besser untergekommen. Doch wir sind froh, etwas gefunden zu haben, denn eine gescheite Alternative haben wir nicht wirklich. Immerhin bringt man uns noch ein Laken. Wir ziehen es dennoch vor unsere Schlafsäcke zu benutzen und verbringen eine erste enttäuschende Nacht in Indien. Doch ein Trost gibt es: Es kann nur besser werden.
Unser erstes großes Ziel in Indien soll Varanasi sein. Doch bis dahin sind es noch etwas mehr als 300 km. Zunächst geht es weiter, wie bisher. Auf guten Straßen vorbei an vielen ärmlichen niedrigen Ziegelhäusern. Der Nebel scheint von Tag zu Tag dichter zu werden. Die Sichtweite sinkt teilweise auf unter 20 Meter. Zum Glück ist es hier kein Problem ohne Licht unterwegs zu sein. Die Geschwindigkeiten sind eh nicht so hoch und alle auf der Straße müssen ständig mit irgendetwas im Weg rechnen.
Viele Menschen sieht man an kleinen Feuern hocken, um sich aufzuwärmen. Das Vieh steht angebunden in unmittelbarer Nähe der Hütten und hat zum Schutz vor der Kälte häufig eine wärmende Decke übergelegt bekommen. Die Temperaturen bewegen sich im einstelligen Bereich. Auch hier ist jetzt Winter, doch solche Kälte muss in diesen Breiten ungewöhnlich sein - so wird uns zumindest mehrmals erklärt. Hin und wieder hängt sich ein paar Kilometer ein Radler an uns. Oft tuckern Motorradfahrer neugierig guckend neben uns her. In den unansehnlichen Orten nimmt der Verkehr stets um ein vielfaches zu und man muss höllisch aufpassen, keinem in die Quere zu kommen.
Wir versuchen unsere Tagesetappen so zu legen, um für die Nacht eine Unterkunft erreichen zu können. Es stellt sich erfreulicherweise heraus, dass nicht alle Zimmer in Indien, den miesen Charakter unserer ersten Unterkunft haben. Wenn man Glück hat funktioniert sogar die Warmwasserversorgung. Doch egal wie die Räumlichkeiten sind, einen modernen Flachbildfernseher hat fast jedes Etablissement. Da wir jedoch auf diesen Luxus nun absolut keinen Wert legen, stören uns auch nicht die häufigen Stromausfälle. Manchmal dauern sie nur wenige Minuten, manchmal aber auch eine Stunde. Jedoch ist während dieser Zeit mittels Generator oder Batterie zumindest für eine Notbeleuchtung gesorgt, sodass man nicht im Dunkeln sitzen muss. Das Problem kennen wir schon aus Nepal, aber das es in der der aufstrebenden Industrienation Indien nun so weiter geht, hätten wir nicht erwartet. Was allerdings hier besser klappt, als in Nepal, ist das Geldabheben. Schon der dritte Automat ist bereit uns etwas auszuspuken.
Um ein Stück mal der Hauptstraße ausweichen zu können, nutzen wir eine geradlinigere Möglichkeit auf kleineren Straßen. Nur müssen wir dazu einen großen Fluss überqueren und haben bei der Kälte keinen Bock auf ein Fußbad im selbigen. Auf Satellitenfotos ist so etwas wie eine Pontonbrücke zu erkennen. Also versuchen wir es mal.
Das Sträßchen ist einigermaßen gut zu befahren. Auf den letzten Kilometern vor dem Fluss geht es im Zickzack durch Felder. Man würde wohl kaum auf die Idee kommen hier entlang zu fahren, wenn nicht das GPS diese Route anzeigen würde. Die weiten Sandbänke im Flussbett sind mit Stahlplatten ausgelegt, damit niemand stecken bleibt. Über die Wasser führenden Stellen führt eine auf großen Tanks schwimmende einspurige Brücke. Da ist eigentlich Chaos vorprogrammiert. Doch viele Pkws sind nicht unterwegs. Wir benötigen ohnehin nicht viel Platz und kommen ohne Probleme nach drüben.
So fahren wir Kilometer um Kilometer. Anhalten muss wohl überlegt sein. Denn sobald das einer sieht, stehen wir im Mittelpunkt des Interesses. Dann drängt man sich nicht selten dicht um uns herum und guckt uns mit großen Augen unverhohlen an. Nichts weiter - man guckt und guckt - tauscht sich evtl. über uns aus - bestaunt unsere Räder, als wären es UFOs - und guckt weiter. Eine Verständigung ist nicht möglich, denn wie schon erwähnt ist englisch in diesen Breiten nicht verbreitet. Jedoch ist man sehr erstaunt, dass wir kein Hindi können. Sorry - wir arbeiten noch dran. Meistens sind es ausschließlich Männer, evtl. noch ein paar Kinder. Wenn wir ein paar gar zu Verwegene bitten müssen, doch bitte nichts anzufassen, macht man sich eifrig gegenseitig vorwurfsvoll darauf aufmerksam, selber dabei unschuldig dreinblickend. Keiner würde auf die Idee kommen, diese Vorstellung von sich aus zu beenden. Außer natürlich wir.
Doch wie soll man unter solchen Umständen an einem langen Radeltag mal eine Pause machen? Manchmal gelingt es, uns in eine kleine Imbissbude zu flüchten und wenn wir Glück haben hindert man die Neugierigen am Zutritt. Doch Entspannen sieht anders aus. Die größte Chance hat man noch, wenn man bereits weit im voraus eine mögliche Abfahrt anvisiert, um sich dann schnurstraks und ungebremst aus jeglichem Blickfeld zu entfernen. Dies sollte möglichst unbemerkt vom Verkehr geschehen, denn man ist durchaus bereit, seine Fahrt zu unterbrechen, notfalls auch zu wenden, um uns auf unwegsamen Wegen zu folgen. Manchmal, vor allem, wenn es sich nur um Einzelpersonen handelt, erreicht man etwas, wenn man zurückstiert. Da scheinen sich die Inder dann auch nicht so wohl zu fühlen und ziehen evtl. weiter. Doch das funktioniert natürlich nicht mehr, sobald sich die Anzahl erhöht.
Doch leider sind die Orte mit Hotels auch mal weiter entfernt, als wir mit einer Tagesetappe erradeln können. Zum einen sind die Tage noch immer recht kurz und zum anderen, hat man nach 100 km (ohne vernünftige Pause) einfach nur noch die Faxen dicke und keine Lust mehr. Wir haben auf unseren Reisen noch nie Wert auf irgendwelche Rekordleistungen gelegt und jünger werden wir ja auch nicht. Was also tun, wenn keine sichere Bleibe in der Nähe ist?
Wir radeln bis kurz vor Sonnenuntergang und versuchen unser Glück im Versteckspielen. Beim ersten Mal kommt uns dabei auch der Nebel zugute und wir können eine ungestörte Nacht im Gestrüpp neben der Straße verbringen. Das klappt also besser, als gedacht.
Beim zweiten Mal wird aber das halbe Dorf in der Nähe auf unsere Suche aufmerksam und wir ändern unsere Strategie und fragen stattdessen nach einem Zimmer zum Übernachten. Und tatsächlich landen wir bei einer Großfamilie, die uns nicht nur ein Zimmer im Haus freiräumt, sondern auch noch beköstigt.
Die Familie scheint nicht zu den Ärmsten zu gehören, denn ihr Haus ist riesig, allerdings noch nicht fertig. So fehlt es noch an Stromanschlüssen, als Bad dient ein Wassereimer und als Toilette das Feld nebenan. Für Gemütlichkeit scheint auch nicht viel übrig zu sein, alles wirkt sehr kahl. Wir bekommen nacheinander jede Menge Onkels und Tanten vorgestellt und verlieren schnell den Überblick. Auffällig ist, dass wir die Frauen nur innerhalb des Hauses zu sehen bekommen und außer ein paar Begrüßungsfloskeln und ein paar gemachten Fotos nicht weiter mit ihnen in Kontakt kommen. Die Konversation mit uns übernimmt ein Sohn der Familie, der zwar ständig mit seinen vielen Diplomen und Abschlüssen prahlt, jedoch ein nur schwer verständliches Englisch spricht - das typische Inglisch eben.
Unangenehm ist, dass wir das Essen allein serviert bekommen und dabei beobachtet werden - hier scheint jeder für sich zu essen - es ist irre scharf, wofür man sich, aufgrund unserer unvermeidbaren Reaktion, sehr entschuldigt. Doch ist man sehr bemüht und lässt mit bewirten erst nach, als wir versichern, dass wir nun wirklich absolut proppenvoll sind und nichts mehr hinunter bekommen. Doch so interessant, wie das alles auch ist, so anstrengend ist es auch und so sind wir total erleichtert, als wir uns endlich hundemüde zurückziehen können.
Am nächsten Morgen erwarten uns noch ein paar Pflichtterrmine. Wir werden weiteren Familienmitgliedern im Dorf vorgestellt und bekommen das eine oder andere Teebecherchen gereicht. Man erzählt uns, dass heute ein Festtag ist und wir werden mit Gangeswasser bespritzt, das soll uns nun ein Jahr Glück bringen. Hoffentlich weiß das das Wasser auch. Über 170 Familienmitglieder soll es geben und gefühlt die Hälfte haben wir wahrscheinlich kennengelernt. Auch die vielen eigenen Felder, Häuser und Grundstücke werden uns stolz vorgeführt. Offensichtlich ist man etwas wohlhabend und wirkt ungläubig, als man erfährt, dass wir in Deutschland kein Haus besitzen.
Doch einer der Brüder, wohl das arme Schaf der Familie, bettelt uns direkt an. Bei so viel zur Schau gestelltem Familiensinn ist es jedoch schon etwas befremdlich, wenn sich dann scheinbar jeder der nächste ist und andere hängen gelassen werden. Doch offensichtlich sind die Erwartungen an uns, hinsichtlich der Unterstützung des Onkels sehr hoch, sodass wir sie nicht erfüllen können. Unsere Geldspende für die erwiesene Gastfreundschaft nimmt man jedenfalls nur widerwillig an. So lieb die Leute sind, sie haben uns ja so unkompliziert aufgenommen, bleibt ein flaues Gefühl im Magen zurück.
Wir nähern uns Varanasi und dem Ganges und nun endlich, nachdem über eine Woche lang Nebel und Düsternis an der Tagesordnung waren und wir kurz davor waren in eine Winterdepression zu verfallen, kommt sie wieder hervor - die Sonne. Juhu, es gibt sie noch. Genau pünktlich zum Makar Sankranti, einem wichtigen hinduistischen Festtag. Mitte Januar feiert man den Beginn eines besonders segenbringenden Zeitabschnitts. Überall sieht man Kinder kleine bunte Drachen steigen lassen, während die Männer auf staubigen Plätzen dem Kricketspiel frönen.
Jedoch stellt der Ganges den wichtigsten Mittelpunkt des Festes dar. Er ist das Ziel vieler Wallfahrtsfeste und ausgerechnet heute auch unseres. An einer Kreuzung geraten wir in eine riesige Menschenschar auf unserem Weg. Tausende, überwiegend Frauen, sind zu Fuß unterwegs. Alle mit ein und demselben Ziel, dem Gangesufer in der Nähe eines Tempels. Bald wird es so eng, dass selbst Motorräder und wir kaum noch durchkommen. Viele Verkaufsstände mit Snacks, Obst und buntem Kinderspielzeug säumen die Straße. Das letzte Stück müssen wir schieben.
Von der Brücke aus sehen wir dann das Spektakel. Unmassen von Menschen drängen sich am Ufer. Viele der Gläubigen gehen nur mit den Füßen rein. Nur wenige tauchen ganz und betend in das heilige Wasser. Liegt es am Wetter? Am garantiert "keimfreien" Gangeswasser, wie uns unsere Gastgeber am Morgen versichert haben, wohl nicht. Eine Weile bleiben wir stehen und versuchen einige Fotos zu erhaschen. Doch für die Vorbeikommenden hier oben sind wir mal wieder viel interessanter, als das Drumherum.
Wir überqueren nun schon zum 2. Mal den Ganges und erreichen wenig später Sarnath, nach Lumbini eine weitere wichtige Pilgerstätte für Buddhisten aus aller Welt. Hier im Wildpark predigte Siddhartha Gautama nach seiner Erleuchtung zum ersten Mal und begründete damit den Buddhismus. Für uns zunächst aber von größerer Bedeutung ist, dass aufgrund des Tourismus sich doch hier eine passende Unterkunft finden lassen muss. Und so ist auch, auch wenn der kleine Ort nicht wirklich viel touristische Infrastruktur bietet.
Die Sonne hat nun wieder die alleinige Vorherrschaft und strahlt unverdrossen von einem wolkenlosen strahlend blauen Himmel, als wäre es nie anders gewesen. Vor unserer Weiterfahrt besichtigen wir noch ein paar der Tempelanlagen im Ort. Unter anderem auch die vermeintliche Stelle der Predigt unter einem alten knorrigen und eingezäunten Baum. Alles wirkt indienuntypisch sehr gepflegt und ordentlich. Viele Japaner unter den Besuchern. Der Buddhismus ist zwar in Indien entstanden, findet hier heutzutage aber kaum noch Anhänger. Der Hinduismus ist im Land die vorherrschende Religion und schon 10 km weiter erreichen wir nach den ersten 6 Tagen auf indischen Straßen die heiligste Stadt der Hinduisten - Varanasi.
In die Stadt hinein nehmen wir kleine Nebenstraßen, auf die uns auch der Routenplaner verweist. Dabei verirren wir uns in den engen Gassen eines muslimischen Viertels. Es geht durch ganz schmale, manchmal kaum meterbreite und hohe Straßenschluchten und es ist voll gruselig. Wenn uns jemand über den Weg läuft, bleibt demjenigen vor Staunen der Mund offen stehen. Ne, hier verirrt sich wahrscheinlich nie ein Auswärtiger. Wir hasten kreuz und quer durch das Viertel und suchen nach einem Ausgang. Alles geht gut, wir werden weder überfallen noch ausgeraubt. Im wahnsinnigen Verkehr einer größeren Straße "schwimmen" wir dann hinein ins Zentrum und steuern zielstrebig unser gebuchtes Guesthouse am Rande der Altstadt an. Auf der Dachterrasse findet sich ein sicheres Plätzchen für die Räder, von wo aus sie einen schönen Blick auf den Ganges haben und ein paar Ruhetage genießen können.
Nach hinduistischer Vorstellung gilt es als besonders verdienstvoll, wenigstens einmal im Leben Varanasi zu besuchen und sich durch ein Bad im Fluss Ganges von den Sünden reinzuwaschen. Wer noch dazu das große Glück hat, an seinem Ufer zu sterben, danach in der heiligen Stadt verbrannt und dessen Asche in den Ganges gestreut wird, soll dem Kreislauf der Wiedergeburt entgehen, Erlösung finden und besonders gesegnet sein. Nun, all das haben wir nicht vor, aber gespannt sind wir auf die Stadt schon und nehmen uns ein paar Tage Zeit, um sie genauer kennenzulernen. Wir haben gehört, dass keine andere Stadt in Indien so dreckig, überfüllt und zeitgleich auch so gemütvoll ist, wie Varanasi. Mal sehen, wie wir die Stadt hinterher selber beurteilen.
Als aller erstes machen wir jedoch etwas, was vom gängigen Besucherprogramm hier abweicht. Wir wollen uns eine indische SIM-Karte besorgen. Im Internet gab es einige Informationen über deren Beschaffung und wir haben uns so weit vorbereitet. Mit einer Kopie von Pass und Visa sowie einem Passbild ausgerüstet suchen wir einen Shop eines Telefonunternehmens auf. Hier nimmt sich sogleich eine Angestellte unsereins an, füllt zügig Formulare aus und schon halten wir die gewünschte Karte in den Händen. Zwei Stunden später ist diese aktiviert und wir können nun die nächsten 84 Tage landesweit telefonieren und surfen. Solch einen Luxus hatten wir noch nie auf einer unserer Reisen bisher.
Für technisch interessierte hier mal die Prepaid-Daten: Innerhalb Indiens eine Flatrate für Gespräche, täglich 100 SMS und täglich 1 Gbyte Datenvolumen für einen Zeitraum von fast drei Monaten und das für ganze 11 €. Wer kann da in Deutschland mithalten?
Nun kann auch der normale Besichtigungsablauf beginnen. Die Stadt erstreckt sich ausschließlich entlang des höher liegenden Westufers des Ganges, während das ebene Ufer gegenüber nahezu unbesiedelt und jetzt während der Trockenzeit versandet ist. Breite steile Treppen, die sogenannten Ghats, verbinden die Stadt mit dem Fluss. Tempel und alte gewaltige Paläste - viele in sehr marodem Zustand, reihen sich fast nahtlos aneinander.
Am Tag geht es recht beschaulich zu, da hatten wir uns etwas mehr Tumult vorgestellt. Kinder spielen am Ufer - was soll ihnen auch im heiligen Wasser Schlimmes passieren, Kühe spazieren auf der Suche nach Futter herum. Hier und da sitzt ein Saddhu mit langen Dreadlocks und Bart. Bootsbesitzer, bzw. ihre Schlepper halten Ausschau nach Kunden. Jeder bietet natürlich den besten Preis. Trollt sich aber auch schnell wieder, wenn das Geschäft aussichtslos erscheint.
Ja, man badet natürlich auch und offensichtlich nicht nur aus religiösen Gründen, sondern einfach auch nur aus hygienischen. Die Frauen bleiben dabei in ihre bunten Saris gehüllt und die Männer sind bis auf ein Höschen nackend. An einigen Stellen sind große Wäschereien bei der Arbeit. Mit kräftigem Schlagen der nassen Wäsche auf Steine erfolgt die Reinigung mit erstaunlich gutem Resultat. Wie das funktioniert - keine Ahnung. Anschließend wird sie großflächig auf den Stufen zum Trocknen ausgelegt. Da liegen dann meterlange, farbenprächtige Saristoffe neben Hotelbettwäsche in der Sonne zum Trocknen. Petra beschließt jedoch, unsere Wäsche nun doch lieber selber zu waschen.
Jede der Ghats - es soll mehr als 80 geben - hat einen Namen und nur zwei sind den Bestattungen vorgesehen. Diese sind den ganzen Tag viel frequentiert. Große Holzstapel liegen in den Gassen dahinter bereit und die Hingeschiedenen werden fast im Minutentakt gebracht. Alles wirkt sehr geschäftig, weniger andächtig oder gar feierlich. Das Fotografieren verbietet sich natürlich aus Anstand, jedoch scheinen Zuschauer das Normalste der Welt. In dieser Religion gehört eben der Tod ganz selbstverständlich zum Leben dazu und ist kein Trauerfall wie für uns. Die Indiskretion ist schon etwas schockierend. Das alles passiert ganz öffentlich. Hunderte Menschen, Hunde oder Kühe ziehen ohne eine Miene zu verziehen an der Verbrennungsstätte vorbei. Nun, das sind wir aus der Gesellschaft, aus der wir kommen, einfach nicht gewöhnt.
Jeden Abend nach Sonnenuntergang findet an den Ghats eine eindrucksvolle Zeremonie statt. Priester verehren mit Feuer, Musik und Gesängen Mutter Ganga. Viele Besucher verfolgen das Spektakel, wenn auch aus verschiedensten Gründen. Die Gläubigen singen und klatschen zu den eher monotonen Rhythmen und die Touristen fotografieren und filmen. Auch vor den Ghats haben sich auf dem Fluss unzählige Boote mit Zuschauern platziert. Kleine mit Blumen und brennenden Kerzen gefüllte (Alu!-)Schalen schwimmen flussabwärts. Eine tolle magische Atmosphäre.
Oberhalb der Ghats liegt die Altstadt. Ein Labyrinth aus verwinkelten Gässchen, die uns sehr an Marokkos Altstätte erinnern. Auch unerwartet viele Muslime leben hier. Lauter kleine Läden, Buden und Stände inklusive Dreck und Verfall. Zahlreiche Kühe und streunende Hunde sind unterwegs. Der Boden ist schmutzig und übersät mit den Hinterlassenschaften der Vier- und Zweibeiner. Jedoch herrscht ein buntes und lebendiges Treiben.
Nach drei Tagen in der Stadt soll es eigentlich weiter gehen - doch Mathi beginnt zu kränkeln. Der berüchtigte Delhi Belly (Dehli Bauch) - ein übler Durchfall hat ihn befallen. Obwohl wir hier im Land besonders vorsichtig sind und auch fast ausschließlich gekauftes Wasser zum Trinken und Kochen benutzen, was wir auf unseren bisherige Reisen eigentlich nie so verbissen gesehen haben, hat es ihn nun also doch erwischt. Der Chef des Hotels ist besorgt, als er ihn den zweiten Tag in Folge nicht zu Gesicht bekommt und Petra anfragt, ob eine weitere Übernachtung möglich ist. Als er von seinem Leiden hört, schwingt er sich sogleich auf das Motorrad und kommt mit einer Elektrolytlösung aus der Apotheke zurück, ist ja nett.
Ob es nun an dem Wundermittel lag oder nicht, es geht Mathias am nächsten Tag so weit besser, dass wir die Stadt verlassen können.
Und wie ist nun unser Fazit: Varanasi ist eine Stadt der Kontraste: leuchtende Farben und Dreck, Spirituelles und Chaos, Leben und Tod, Freude und Elend. Sie zieht einen unweigerlich in ihren Bann und ist einen Besuch wert. Doch bietet sie auch etwas zu viel von allem und so sind wir auch ein bisschen froh, sie nun wieder verlassen zu können.
Pünktlich zu Beginn der Feierlichkeiten zum Vasant Panchami, dem hinduistischen Frühlingsfest, verlassen wir Varanasi. Er ist der höchste Feiertag der Göttin Saraswati, eine der populärsten hinduistischen Göttinnen. Schon kurz nach Sonnenaufgang ertönt laute Musik in der Straße. Na, die fangen ja zeitig an, ihre Festtage zu begehen. Beim Beladen der Räder vorm Hotel verlieren wir die Anonymität von normalen Touristen und stehen schlagartig wieder im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.
Auf Nebenstraßen schlängeln wir uns aus Varanasi hinaus. Das klappt diesmal besser als bei der Reinfahrt, da wir nicht in Wohngebieten mit so engen Gassen landen. Außerhalb der Stadt können wir meistens den Highway umgehen, aber für ein kurzes Stück müssen wir drauf. Doch wir haben Glück, der dicht befahrene Highway ist vierspurig. Wir haben also genug Platz zum Radeln.
Zum zweiten Mal können wir eine Pontonbrücke zur Flussüberquerung nutzen, das hat den Vorteil, dass man von Bussen und Lkw verschont bleibt, weil die nicht über die Brücke kommen. Da auch dieser Fluss jetzt während der Trockenzeit Niedrigwasser hat, verläuft die Piste eine ganze Strecke über Sandbänke auf ausgelegten Stahlplatten.
Überall unterwegs in den Orten sind Altäre geschmückt oder es werden extra Verehrungsplätze aufgebaut und dekoriert. Oft schallt Musik über die Straßen. Besonders Schüler und Studenten verehren die Göttin und in vielen Schulen und Universitäten zelebriert man Gottesdienste und feiert fröhliche Feste mit Musik, Tanz und gemeinsamem Essen. Die Schuluniformen sind heute akkurater, als sonst und die Frauen sind in besonders farbenfrohe Saris gehüllt.
Wir kommen nur mühsam voran. Mathias fühlt sich noch immer nicht richtig fit und auch Petra ist inzwischen etwas der Appetit vergangen. Doch nur mit Tee und Bananen im Bauch fehlen die nötigen Energiereserven, um ordentlich Radfahren zu können. So sind wir froh, als wir nach nur 60 km, unser nächstes Übernachtungsziel erreichen und lassen uns schnell in unserem gebuchten Zimmer nieder. Nachdem wir noch eine Maus erfolgreich aus unserem Zimmer vertrieben haben, kann uns auch der mit lautem Getöse und viel Dampf seinen Dienst quittierende Warmwasserboiler im Bad nicht mehr viel aus unserer Lethargie herausschrecken. Auch nicht der Feiertagslärm im Hof, der noch die halbe Nacht zu hören ist.
Wir erreichen ein Gebiet in der die Gegend viel karger und teilweise auch einsamer ist. Das erste Mal im Land begegnen uns größere Herden und hinterlassen eine triste Landschaft mit kahlen und überweideten Flächen. Doch ein paar Hügel prägen nun das bisher ausschließlich ebene Land.
Noch immer fehlen Kondition und Kraft zum Vorwärtskommen, doch wir schaffen erstaunlicherweise dennoch fast 100 km und das auf zum Teil recht unwegsamen Pisten. Heute ist definitiv, keine feste Unterkunft erreichbar. Die Sonne steht schon tief, als wir in Windeseile über einen brachliegenden Acker hoppeln, um ungesehen einen abgelegenen Platz zu erreichen. Der ist gar nicht so schlecht, doch viele Trampelpfade führen durch das Gebiet und so bleibt es nicht aus, dass zwei, drei Leute vorbeikommen und einer von ihnen kurz darauf mit Verstärkung und Taschenlampe ausgerüstet wieder kommt. Nachdem wir uns das auf uns gerichtete Licht aber verbeten haben, wird es ihnen zu langweilig, denn im Dunkeln macht das Gucken ja keinen Spaß und wir haben sie wieder los. Im Morgengrauen sind sie aber wieder da. Doch sie kommen zu spät. Wir haben unser schnelles Frühstück im Zelt bereits beendet und so können sie nur noch unseren Aufbruch beobachten.
Ein kurzer staubiger Anstieg bringt uns an die Grenze der beiden Bundesstaaten Uttar Pradesh und Madhya Pradesh. Hier erwartet uns ein riesiges Terminal, aber auch eine nagelneu gebaute vierspurige Straße. Wüssten wir nicht, wo wir sind, würden wir annehmen in ein neues Land zu reisen und die Pässe herausholen zu müssen. Wie sehr sich doch die indischen Bundesstaaten voneinander abgrenzen.
Aber der ganze Aufwand gilt hauptsächlich dazu, die Lkw abzukassieren und wir radeln einfach durch. Auffällig ist, dass wir bisher nie ein Auto mit Nummernschildern eines fremden indischen Bundesstaates gesehen haben, man bleibt zu Hause. Nach etwa 100 km endet aber der schöne Highway und die Piste wird zu einer meist löchrigen und schmalen Landstraße. Viel Abwechslung gibt es nicht: Felder, Felder, Dörfer, Dörfer und dazwischen viele, viele Leute. So geht es durch Rewa und Satna. Unbedeutende Städte, aber mit dem für uns wichtigem Hotelangebot. Der Appetit stellt sich so nach und nach wieder ein und ein etwas größeres Warenangebot verlockt uns, diesem auch gerecht zu werden. Das Hungergefühl ist inzwischen wieder auf einem normalen Level und die Kondition kehrt auch zurück. Alles wieder Bestens.
In Satna erwischen wir mal ein Zimmer mit Wohlfühlcharakter und legen einen Ruhetag ein. Ganz Indien ist mal wieder in Feierstimmung. Heute ist Tag der Republik, schon der 3. Feiertag innerhalb der 14 Tage, die wir nun im Land sind. Wir haben mal gezählt, es sind über 40 Feiertage im Jahr, die da zusammenkommen. Die haben es gut, die Inder.
Auf unserer Weiterfahrt passieren wir Panna. Es ist nichts als ein größeres Dorf, das wegen des nahen Tigerreservats etwas vom Tourismusboom abbekommen hat. Unsere Straße führt direkt durch den Nationalpark und ist nicht sehr befahren. Immer mal wieder ein Schild, was auf die hier lebenden Tiger hinweist. Es gibt jedoch Berichte, dass diese inzwischen ausgerottet sein sollen. Wir sehen jedenfalls nur ein paar Kühe, einen Riesenhirsch, ein paar Affen und ein paar außergewöhnlich bescheuerte Hunde bei den wenigen Orten. Die Landschaft verändert sich etwas, es gibt mehr Bäume und jetzt spürt man auch mehr, dass Frühling ist, viele sind kahl oder haben nur ein paar vertrocknete riesige Blätter, und dazu das frische Grün auf den Feldern, verbreitet etwas Frühlingsstimmung. Die Sonne strahlt und wärmt, doch die Luft ist noch angenehm frisch.
Wir biegen von der Hauptstraße ab, um einen Umweg an ein paar Wasserfällen vorbeizumachen. Wasser sehen wir jetzt in der Trockenzeit leider nicht fallen. Doch die Schlucht unten, mit den übrig gebliebenen Tümpeln, ist auch schön und mal was völlig anderes, als im bisherigen Indien.
Mit Khajuraho erreichen wir mal wieder ein beliebtes Touristenziel am Wegesrand, dessen Tempelbezirk einen außergewöhnlichen Anblick bietet. Auch in der Umgebung des Ortes finden sich verstreut Tempel mit einer beachtenswerten Architektur.
Kurz vor Orchha, dem nächsten großen angestrebten indischem Etappenziel, nach Varanasi, müssen wir nochmal auf eine Übernachtung im Zelt ausweichen. Diesmal gelingt es uns unbemerkt in eine verlassene Hütte zu schlüpfen. Obwohl viele oft nur wenige Schritte entfernt daran vorbeigehen oder fahren, bleiben wir unbemerkt. Ätsch - wenn die alle wüssten, welches Schauspiel sie somit verpassen.
Ende Januar erreichen wir die ehemalige Fürstenstadt Orchha. Wir haben die ersten 1000 km auf Indiens Straßen gemeistert und uns nach einigen Eingewöhnungsschwierigkeiten inzwischen auch etwas besser auf das Land eingestellt. Nun können wir aber erstmal für ein paar Tage relaxen und das ganz normale, etwas weniger beachtete Touristenleben genießen.